Außergewöhnliches und umfangreichstes Buch zum Mercedes-Benz 600
 
2. März 2013
Rezension von Dr. Priesnitz
Top-Rezensenten Rang
Quelle: Amazon.de, Kundenrezensionen
 
Auf der IAA 1963 wartete ein Mercedes auf die Öffentlichkeit, der in der Tradition des "Großen Mercedes" in dritter Generation an Exklusivität und technischer Innovation die Welt beeindrucken sollte und Rolls Royce und Cadillac in die technische Mottenkiste stecken wollte. Und tatsächlich spiegelte der 600 (auch als W100 bezeichnet) den Höchststand der Technik seiner Zeit wider. Sein Sonderstatus wurde auch dadurch deutlich, dass er ohne Profitbegehren in Kleinserie und Handarbeit hergestellt wurde, was darüber hinaus Reminiszenzen an die "Sonderbau - Abteilung" von Hermann Ahrens erweckte. Hauptverantwortlich für das Design war ein Franzose, namens Paul Bracq, der seine erste Stelle als Karosseriedesigner in der berühmten Werkstatt von Jacques Saoutchik angetreten haben soll ??? (Vgl. Quelle: Buch "Triumphe des Automobildesigns), einem französischen Karosseriebauer, der wie Figoni & Falaschi oder Henri Chapron für Marken wie Delahaye, Talbot Lago oder Delage die teuersten automobilen Kleider in den 1930er Jahren schneiderte. Mercedes engagierte unter Geiger neben Bracq auch noch Bruno Sacco. Beide katapultierten die biedere Automarke auf das Niveau der damals angesagten Entwürfe aus Italien und Frankreich. Es soll zumindest noch erwähnt werden, dass Bracq in seiner Zeit als Chefdesigner bei Daimler Benz zwischen 1957 und 1967 auch maßgeblich für die Linienführung des Mercedes Pagode, des W108/109 und der Strich Acht Modelle verantwortlich war. BMW engagierte ihn ab 1970 als Design Direktor und dort wurden unter seiner Regie die Baureihen E12 (5er BMW), E21 (3er BMW), E23 (7er BMW) und E24 (6er BMW) entworfen. Ein Highlight bildete der heute noch im BMW Museum zu besichtigende Flügeltürer BMW Turbo (E25) aus dem Jahr 1973, der später zum Vorbild für den M1 wurde. Der Mercedes 600 gilt sicher in der Biographie von Paul Bracq und der Geschichte von Mercedes Benz als ein Meilenstein. Das erkannte auch die internationale Prominenz mit technischem Interesse. So sollen angeblich arabische Königshäuser teilweise um die 100 Exemplare in der Garage geparkt haben, Präsident Mobutu oder der Schah von Persien sollen jeweils etwa 20 besessen haben, ganz zu schweigen von Mao Zedong, Idi Amin oder Gaddafi. Zu den berühmten Besitzern aus dem Showbusiness und der Öffentlichkeit zählten z.B. Liz Taylor, John Lennon, George Harrison, Rudolf Schock, Udo Jürgens, Ivan Rebroff, Elvis Presley, Von Karajan, Aristoteles Onassis, Coco Chanel, Gunter Sachs, Max Grundig, Kaiser Hirohito, Leonid Breschnew, etc. Interessant ist festzustellen, dass der Mercedes 600 trotz einer überschüssigen Portion Chrom immer noch der zurückhaltenden Bauhaus - Tradition folgte und auch heute noch trotz des Luftwiderstands eines schwäbischen Bauernschranks immer noch zeitlos wirkt. Schlichte und kantige Linienführung mit großen Glasflächen bei relativ flach gehaltenen Dach standen im spannungsreichen Kontrast zum Chromschmuck und verleugneten trotz der exorbitanten Abmessungen auch nicht die Markenidentität im Sinne des Corporate Designs, was den Schwaben damals wie heute sehr wichtig erschien. Es wurden zwei Radstandvarianten realisiert. Neben der 5,54m langen Grundausführung gab es noch die rund 70cm längere Pullmann Version, zunächst viertürig mit hydraulisch versenkbarer Trennscheibe und später auch sechstürig. Zudem gab es auch sechstürige Versionen, bei denen die zwei mittleren Türen nicht auf Anhieb erkennbar waren. Kurz drauf folgte auch noch eine vier- und eine sechstürige Landaulet - Version, bei der sich über der hinteren Sitzreihe oder zusätzlich über den mittleren klappbaren Sesseln ein Faltverdeck elektrisch öffnen ließ. Ähnlich wie bei der britischen Konkurrenz wurden in der Bauzeit zwischen 1964 und 1981 fast alle erdenklichen Kundenwünsche individuell realisiert. Dazu zählten z.B. die Materialien der Innenausstattung, Furniere, Stoffe, Accessoires, Klimaanlage, Fernseher mit Videogerät, Plattenspieler, Autotelefon, Kühlbox, Boardbar oder Diktiergeräte. In den 1960er und 70er Jahren galt der 600 als das höchsttechnisierte Automobil der Welt. Die damals neuartigen technischen Features sind allerdings anfälliger als unsere aktuelle Technik, was aufgrund der Technologiedichte zu umständlichen und damit aufwendigen Reparaturen führen kann. Auch heute ist die Versorgung mit Ersatzteilen noch gut, aber teuer wie Ungeheuer. Für ein defektes Heckdeckelschloss sind mal eben fast 8000 europäische Taler zu berappen. Darüber hinaus galt der Heckdeckel als Hotelboy- und Gepäckträger -Killer, denn er biss mal gern ein paar Finger ab. Man konnte den Kofferraumdeckel nicht mit Muskelkraft schließen, ohne die Konstruktion zu beschädigen. Am Schloss war eine Lasche zu drücken, die den Deckel pneumatisch per Unterdruck steuerte und einen Notschalter für den Gepäckboy gab es damals noch nicht, wenn der Mechanismus gestartet worden war. Ebenso ließ sich der Zündschlüssel nicht abziehen, insofern der Kofferraumdeckel noch offen stand. Auch der Motor war recht modern und unter der Haube wurde es recht unübersichtlich. Beim Motor handelte es sich um einen 6,3 Liter V8, der über obenliegende Nockenwellen und Saugrohreinspritzung verfügte. Mit 250PS lief der schwere Benz mit Automatikgetriebe auch in der Langversion um die 200km/h schnell. Das maximale Drehmoment betrug etwa 500 Nm (damals 51mkg) bei 2800 U/min. Die Verdichtung lag bei ca. 1:9. Der kurze 600er genehmigte sich rund 24 Liter Kraftstoff auf 100km, während der Pullmann rund 26 Liter Super im Schnitt auf 100km schluckte. Der Wendekreis des Basismodells lag bei ca. 12,7 Meter und bei der Langversion bei ca. 14,60 Meter. Die Kurzversion beschleunigte in rund 10 Sekunden von 0 auf 100km/h, während sich der Pullmann etwa 12 Sekunden genehmigte. Das Fahrwerk zeichnete sich durch eine Luftfederung mit Niveauregulierung aus, so dass die Karosse auch auf kurvenreichen Straßen immer gut zu "handlen" war. Die Stoßdämpferhärte (verstellbare Teleskopstoßdämpfer) ließ sich vom Fahrersitz aus regulieren. Auch die Bremsanlage mit Scheiben rundum war besonders, denn die Servowirkung erzeugte nicht ein handelsüblicher Unterdruckverstärker, sondern der Überdruck, den der Kompressor der Luftfederung lieferte. Die zentrale Komforthydraulik war aber nicht nur für die Versorgung der Servolenkung verantwortlich, sondern aktivierte auch einige andere Bedienelemente, wie die Trennwandscheibe, die Fensterheber, das Schiebedach, die Lüftungsklappen und bewegte auch die Sitze oder zog die Türen bzw. den Kofferraumdeckel ins Schloss. Außerdem verfügte der Mercedes 600 als erster unterm Stern über eine Unterdruckzentralverriegelung. Von der Pullmannversion, dem klassischen Chauffeurs- bzw. Repräsentationswagen entstanden rund 487 Fahrzeuge, darunter gut 59 Landaulets. Vom kurzen 600er wurden dafür rund 2190 Stück gebaut. So war der 600 aber ähnlich wie der spätere Revival - Maybach ein prestigereicher Flop angesichts der Tatsache, dass man bei Mercedes Benz zunächst eine Produktion von 3000 Fahrzeugen pro Jahr angestrebt hatte. Rolls Royce erfüllte gleichzeitig Produktionszahlen dieser Größenordnung pro Jahr. In der 17jährigen Bauzeit des 600er blieb das Design stets unberührt, wobei es z.B. bezüglich Hydraulik und Getriebe, im Rahmen der Modelpflege 1968 und 1972 Veränderungen gab. Wegen der besseren Hydraulik sollten Oldtimerjäger nach Expertenmeinung eher zu Modellen nach dem Jahr 1972 Ausschau halten, wobei für diese heutzutage schon mal 185000 europäische Taler verlangt werden können, für einen Pullmann sogar 250000 Kröten. Ein paar Modelle lassen sich auch aus nächster Nähe im Untertürkheimer Mercedes Benz Museum oder immer wieder einmal während des blühenden Barock auf Schloss Ludwigsburg inspizieren. Über das Buch
 
Dieses Buch gilt als die umfassendste Betrachtung des Mercedes 600, die jemals erschienen ist. Viel umfassender als ich es vorab als "Apetizer" getan habe, sprudelt es hier geradezu vor Information in Wort und Bild. Das Buch besteht aus fünf übergeordneten Kapiteln, die in sich noch feiner in 68 Unterkapitel gegliedert werden. Im ersten Kapitel zum klassischen Mercedes Benz 600 wird mit speziellen Fokus die Technik des Fahrzeugs unter die Lupe genommen, ganz zu schweigen von den Ausstattungsmöglichkeiten. Immerhin gab es 15 Patente, die im Laufe der Entwicklung der Staatskarosse angemeldet wurden und so werden natürlich die technischen Features dem Leser im Detail erklärt. Positiv hervorzuheben ist die Sammlung an technischen Daten in Tabellenübersicht, die Diagramme, die Schnittzeichnungen und die schematischen Darstellungen, die allgemein in so umfangreicher Form nicht selbstverständlich sind für Automobilbücher dieser Art. Auch historische Fahrberichte à la "Roadtest Portfolio" sind im Buch zu finden. Im zweiten Kapitel "Der Mercedes Benz im 21. Jahrhundert" wird über den jüngsten und ältesten 600er berichtet. Dazu zählen Restaurierungsdokumentationen, die Präsentation von Neuaufbauten, Berichte über Fahrzeuge in neuwertigem Zustand und eine historische Spurensuche bis hin zu den Clubs und Interessensgemeinschaften. Im dritten Kapitel geht es rund um die Entwicklung, Anekdoten und Unikate. Einleitend kommt auch Paul Bracq zu Wort. Schwerpunkt des Kapitels bildet dabei die Entstehungsgeschichte der Serienfahrzeuge mit ihren Varianten (auch ein 12 Zylinder befindet sich darunter) und Sonderausführungen, ganz zu schweigen von der Listung bedeutender Besitzer. Im vierten Oberkapitel "Der Mercedes Benz 600 -international und prominent" geht es um die speziell für die VIP Lounge gebauten individualisierten Fahrzeuge. Hier gibt es eine repräsentative Auswahl von 20 Fahrzeugen mit Besitzern zu bestaunen. Zum Abschluss wird auch noch Licht auf den seltenen und heute wertvollsten 600er geworfen, nämlich dem Landaulet. Dazu zählt auch die Sonderanfertigung für Papst Paul VI., der heute wieder im Besitz des Mercedes Museums ist.

Insgesamt hat das Buch erstaunliche 488 Seiten, auf denen über 870 vorwiegend farbige Bilder Platz fanden. Zu den Bildern zählen historische Aufnahmen (Archive, Sammlungen), aber auch ansprechende aktuelle, die speziell für dieses Buch angefertigt wurden. Der Sammelband im Schuber soll angeblich in einer limitierten Auflage von 1000 Stück erschienen sein, worüber sich die etwas hohen Anschaffungsmodalitäten erklären lassen würden. Der hochwertige Druck erfolgte auf Hochglanzpapier. Das Buch ist insgesamt als sehr gelungen zu bezeichnen. Dennoch wäre er wünschenswert, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal eine broschierte Neuauflage des Buchs für ein Massenpublikum herauszubringen. Ob in dieser Reihe noch ein Buch zum Maybach erscheinen wird, wage ich zu bezweifeln, denn diesem "Nachfolger" des 600er fehlte es von vornherein am schönen Äußeren und vielleicht auch an einem Paul Bracq. Für die aktuell verlangten 165 Kröten gibt es einen Stern Abzug bei der Bewertung.